Es ist kein Wunder, dass ich mich gerade nach meinem Blog und dieser Welt sehne – denn ich habe das Gefühl, wieder ganz am Anfang zu stehen. Deutlich muss ich mir widersprechen, dass es nicht so ist. Dass meine Lage heute eine andere ist. Und ich nie wieder so ausgeliefert sein werde. Aber mich zu überzeugen, ist schwer. Zu tief sitzen die Erinnerungen – im Körper, im Kopf. Ich hatte so sehr gehofft, dass ich die Zeit der existenzbedrohenden Situationen nie wieder erleben müsste. Dass ich meinen Wohnort diesmal selbstbestimmt wechseln würde, weil ich es will.
Das zurückliegende Jahr war krass. Ich habe nach fast zehn Jahren endlich wieder eine Therapie begonnen. Lange hatte ich gebraucht – vor allem, nachdem ich von meiner Beraterin geghostet worden war und das Gefühl hatte, meinem Urteilsvermögen nie mehr vertrauen zu können. Ich wollte erst Therapie machen, wenn meine äußeren Umstände einigermaßen stabil sind. Und das waren sie! Ich hatte zwar eine längere, schwerere depressive Phase. Ich war in eine Art Co-Abhängigkeit gerutscht, während ich versuchte, meine Partnerin auf ihrem Weg durch Kurzarbeit, Klinik und Borderline-Diagnose zu unterstützen. Aber ich hatte Hoffnung. Beruflichen Erfolg – auch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit mir zu schaffen machte. Vor allem hatte ich das Gefühl, dass es immer weiter geht – sich meine Lebensumstände zwar in stetigem Auf und Ab, doch auch stetig verbesserten. Ich bin selbstständig, schuldenfrei, von niemandem direkt finanziell abhängig, habe ein Dach überm Kopf, eine Beziehung und einige wunderbare Menschen in meinem Leben.
Und nun hatte ich auch noch das unverschämte Glück, schnell einen Therapieplatz zu bekommen. Die einzige Rückmeldung auf all meine vielen Anfragen, aber ich hatte zunächst das Gefühl, es könnte einigermaßen passen. Tja, dann ging es los: Nur anderthalb Wochen nach meinem Erstgespräch Ende November starb mein Opa nach einigen Tagen im Krankenhaus. Er war der einzige Mensch in der Herkunftsfamilie, mit dem ich mich wirklich gut verstanden hatte. Bevor ich mir erlaubte, mehr Infos über seine Zustandsverschlechterung einzuholen, entschied ich mich noch dafür, weiter mit der Therapeutin zu arbeiten.
Ich erzählte erst gar nicht, dass er gestorben war. Ein Fotoshooting sagte ich ab, doch ansonsten powerte ich durch. Es lenkte ab. Nahm alle Termine wahr, sogar ein anstrengendes Wochenende fast direkt nach der unglücklichen Nachricht. Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass das irgendwann passiert. Aber es fühlte sich an, wie das weltschlechteste Timing. Neva hatte gerade ihren zweiten Klinikaufenthalt. Ich war allein, ich hatte viel zu tun, ich musste für sie stark sein.
Der große Crash
Das ging einige Zeit gut. Ich verbrachte Weihnachten mit Freund*innen, konnte sogar schon wieder lachen. Silvester blieb ich allein. Anna kam zurück. Ich startete etwas angeschlagen, aber doch fleißig in das neue Jahr. Die Beerdigung war schlimm. Doch ich schaffte es, noch eine Weile weiter zu verdrängen. Dennoch merkte ich, dass mir alles zu viel wurde. Immer wieder schrieb ich es in mein Tagebuch. Jede Nachricht, jede Anfrage, jeder Social-Media-Kommentar, jedes Thema, zu dem man unbedingt etwas sagen sollte, jede schlimme Sache, die auf der Welt so passiert ist, jeder Auftrag, jedes Bedürfnis anderer Menschen, das von mir erfüllt werden wollte, die stetige Angst, etwas falsch zu machen, im Internet wieder hämisch bewertet zu werden...
Im Februar dann der große Crash: Krise. Ein Abend mit Alkohol, allein. Eine Woche voll Übelkeit, Appetitlosigkeit, Erbrechen und Flüssigkeitsverlust. Eine Nacht in der Notaufnahme. Ein Monat krank (zum ersten Mal, seit ich selbstständig bin). Das Wort Burnout. Die Empfehlung, auf eine Krisenstation zu gehen. Ich floh lieber zu meiner Freundin.
Irgendwann geht jede Krisenakutphase vorbei, weil das kein Mensch ewig aushalten kann. Ich machte also irgendwie weiter. Mit halber Geschwindigkeit oder angezogener Handbremse, wie meine Therapeutin sagt. Wir fetzten uns ganz schön heftig, weil bei ihr immer wieder mein Autoritätsproblem ansprang. Bis ich es verstand. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich die richtige für mich ist. Den Umständen entsprechend, was für ein Privileg es ist, überhaupt einen Platz zu haben, bin ich jedoch zufrieden. Auch wenn ich oft denke: Ich sollte Platz machen für einen Menschen, dem es schlechter geht oder der es mehr will, sich besser einlassen kann und nicht ständig hinterfragt. Doch aus genau diesem Denken habe ich Jahre gewartet. Vielleicht der Grund dafür, dass das Fass schon zu voll war, um sich kontrolliert öffnen zu lassen.
Bereit, weiterzumachen – aber dann...
Nun hatte ich einen Monat Sommerpause. Einen tollen Urlaub mit meiner Freundin. Den ersten Besuch bei meiner Oma überlebt. Und noch mal eine Woche bei Neva verbracht. Und es ging mir an manchen Tagen wirklich gut. Andere waren wieder von Antriebslosigkeit und all dem geprägt. Doch ich hatte das leise Gefühl, jetzt bereit zu sein: losgehen und sinnvoll weitermachen zu können.
Ich kam nach Hause, vor drei Tagen. Der erste Arbeitstag war schwierig. Aber das ist nach der Pause ja normal. Ich dachte, ich brauche einfach nur noch einen Tag, um anzukommen. Schrieb in mein Tagebuch, wie schwer es ist, die guten Zeiten zu genießen, wenn doch dahinter unweigerlich wieder eine schlechte lauert. Auch wenn es danach wieder bergauf geht – immer – ist dieses Hin und Her doch unglaublich anstrengend. Realität rezidivierender Depressionen, wie meine aktuelle Diagnose lautet.
Als hätte ich es heraufbeschworen, bat mich am Abend meine Mitbewohnerin zum Gespräch. Ich wusste sofort, was los ist. Spürte sofort diese schrecklichen, schrecklichen Gefühle. Und wie sie so ist, sagte sie nicht einfach nur, dass sie mit ihrem Freund zusammenziehen wolle. Sie musste noch schön nachtreten – bloß keine Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen übernehmen und die Schuld den anderen geben. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, sie so einzuschätzen. Niemand hätte sie so eingeschätzt und ich habe alles gegeben, ihr wohlwollend und verständnisvoll entgegenzutreten.
Vor einiger Zeit wollte sie, dass ich mehr Miete bezahle, weil sie gerade nicht so viel verdiente. Ich hätte es sogar gemacht, obwohl ich von ihren stattlichen Rücklagen weiß. Trotzdem sagte sie, es wäre ja echt nett von ihr, schließlich könnte sie mich auch einfach dazu zwingen. Sie sagte mir auch, sie wolle sich eh eine kleinere Wohnung suchen. Und ich bat sie, zu versuchen, mich in den Hauptmietvertrag aufzunehmen, damit ich dann in unserer Wohnung bleiben könnte. Sie dachte darüber nach und sagte dann, dass sie das nicht wolle. Die Begründung: Sie wolle „schon die Macht behalten“ – und sie hat wirklich „Macht“ gesagt. Da war ich so enttäuscht von ihr, dass ich dachte: Nun sind wir keine Freundinnen mehr.
Jetzt hat sie wieder so etwas gesagt: Ich hätte mir plötzlich Raum genommen und sie hätte sich dadurch nicht mehr wie eine Hauptmieterin gefühlt, sei kleiner und kleiner geworden. Dabei zahlen wir genau gleich viel Miete. Ich habe sie immer gefragt, ob es für sie in Ordnung ist, dass ich das Wohnzimmer zum Arbeiten nutze. Immer versucht, sie in die Gestaltung der Gemeinschaftsräume einzubinden, seit unser dritter Mitbewohner ausgezogen war. Sie sagte nur, dass sie ihr Zuhause sowieso nur als Schlafplatz sieht und es ihr egal ist. Trotzdem habe ich immer wieder gefragt. Sie hat nie gesagt, dass sie das stört. Ich verstehe sogar, dass sie so etwas denkt – sich bedroht fühlt, wenn sie sich die einzige Macht verliert, die sie zu haben glaubt. Aber dass sie es nicht reflektieren kann und mir vorwirft – das verletzt mich. Ich dachte, wir teilen etwas. Kennen uns nun so lange. Ich bin enttäuscht von ihr.
Natürlich war klar, dass so etwas irgendwann passieren würde. Ich habe schon letztes Jahr intensiv gesucht, weil ich es wollte, aber in der großen Stadt ist es aussichtslos. Als Selbstständige sowieso – obwohl ich mehr Geld habe als im Angestelltenverhältnis. Sie kann nichts dafür. Ich kann nichts dafür. Es ist so. Und nun habe ich eine Deadline. Eine schriftliche Kündigung. Und je früher ich verschwinde, desto besser.
Ich hätte wirklich gerne eine eigene Wohnung. Zu einem anderen Zeitpunkt würde ich vielleicht auch mit Neva zusammenziehen. Aber wir haben uns fürs erste dagegen entschieden – und ich mich zur Therapie. Ich solle doch pendeln, sagt meine Mitbewohnerin. Schwärmte mich voll damit, was sie aus der Wohnung nach meinem Auszug machen will. Taktgefühl ist wirklich nicht ihre Stärke.
Aber ich werfe ihr nicht vor, dass sie mich rauswirft. Ich verstehe es. Ich freue mich für sie! Ich bin selbst der Meinung, dass die Zeit unseres Zusammenwohnens schon seit ein oder zwei Jahren abläuft. In einer anderen Stadt, einer anderen Welt, mit einer anderen Arbeit wäre vielleicht alles anders – wenn Wohnraum kein Luxus wäre.
Erlaubnis, verzweifelt zu sein
So und mit all meinen schlimmen Erfahrungen und in meiner aktuellen Situation – reißt diese Nachricht mir den Boden unter den Füßen weg. Ja, ich habe vorübergehende Übernachtungsangebote, darf meine Sachen bei jemandem unterstellen und könnte sogar das Büro eines Freundes zum Arbeiten nutzen. Ich könnte mir auch ein Hotelzimmer oder Ähnliches leisten für ein paar Wochen. Aber ich will das nicht. Ich will nicht wieder von einem Ort zum anderen, einem Schlafplatz zum nächsten pendeln müssen. Es sollte nicht sein, dass sich mein Leben in zehn Jahren so verbessern konnte und nun doch alles zerbricht, was ich mir aufgebaut habe.
Ich bin verzweifelt und niemand versteht die Dramatik, der nicht selbst das Gefühl dieser Ausweglosigkeit kennt, nicht selbst erfahren hat, wie es ist, keinen festen Ort zu haben, von dem du nicht jederzeit vertrieben werden kannst.
Immer und immer wieder spiele ich meine Situation herunter. Schreibe auf Instagram, ich hätte Lust auf die Arbeit, aber gegen eine weitere Woche Urlaub nichts einzuwenden. Dabei ist es nicht Faulheit, sondern Depression, die mich lähmt. Ich bin unehrlich zu mir selbst. Sage immer: Ich schaff das schon. Mach dir keine Sorgen. Kümmer dich nicht um mich. Ich bin für dich da. Nicht umgekehrt. Ich komm schon zurecht. Es geht mir zu gut, um Anspruch auf Unterstützung zu haben. Immer einen motivierenden Spruch auf den Lippen, den ich selbst nicht glauben kann.
Natürlich ist es nicht immer so. Aber jetzt gerade. Möchte ich einfach auch mal verzweifelt und traurig und wütend sein dürfen. Nicht immer vernünftig und genügsam und erwachsen. Ich werde weitermachen, ich versuche es, ich werde es schaffen, irgendwas hat sich immer ergeben. Ja. Ich weiß. Und trotzdem wünsche ich mir, auch mal darin gesehen zu werden, wie schwer und scheiße und anstrengend das alles ist. Nur weil es nach außen so wirkt, ist kein Mensch immer stark. Oder hat Lust darauf, stark zu sein. Und das „gebrochene Mädchen“, dem nichts zugetraut wird (ich kenne beide Extreme), ist nicht die einzige Alternative. Es gibt so viel dazwischen.
Es ist nicht einfach. Und es wird nicht einfacher, je mehr Mist in der Welt passiert, je bewusster uns unsere Privilegien werden und je härter danach geurteilt wird, wie schlimm jemand leidet. Bei sich zu sein. Wenn ich mich mir nähere, scheint alles brandgefährlich und kurz vorm Explodieren zu sein. Deshalb war ich so lange weg. Von mir. Kaum bin ich wieder da, passiert tatsächlich nur Scheiße. Aber vielleicht ist das auch einfach Zufall.
Ich habe es so vermisst, einfach mal alles rauszulassen und dabei gelesen zu werden. (Ich bin schon beim dritten Tagebuch dieses Jahr.) Und ich freue mich, falls hier wirklich noch jemand mitliest, über jeden Aufruf und jedes Wort. Niemand kann mir gerade helfen und ich komme wirklich schon klar. Trotzdem hilft es manchmal, einfach nicht allein mit den Gedanken zu sein. Ich bin so dankbar für meine Freund*innen, die mich in (fast) allen Stufen des Dramas aushalten.
Glitzer an dich 💖💖💖